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08.05.2024, 11:26 Uhr
Katrin Hillgruber
Spektakula

Arno Schmidts Erzählstoffe aus Kleiderschrank und Schreibmaschine zeigt eine Ausstellung im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg

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Foto: Jochen Voos / molitor GmbH

Die Ausstellung „Kleider. Geschichten“ im Augsburger Textil- und Industriemuseum (tim) zeigt den umfangreichen textilen Nachlass des Schriftstellers Arno Schmidt und seiner Frau Alice. Die Schuhe und Kleidungsstücke aus mehreren Jahrzehnten bieten einen besonderen Zugang zu Schmidts Werk, geben einen Einblick in das Leben des Ehepaars und machen zugleich ein Stück deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts erfahrbar.

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In Arno Schmidts Erzählung Die Wasserstraße aus seinem emblematischen Prosaband Kühe in Halbtrauer (1964) stößt die Protagonistin Ruth mit ihren Begleitern bei einem Spaziergang durch die Lüneburger Heide auf einen polizeilichen Aushang. Angezeigt wird der Mord an einer „unbekannten Frauensperson, anscheinend Dienstmagd, etwa 20 Jahre alt“. Es folgt eine schwindelerregend detailfreudige, fast zwei Druckseiten umfassende Beschreibung sämtlicher Kleidungsstücke und Accessoires, welche die Ermordete trug, beginnend mit einer „Jacke von schwarzem Orleans, besetzt mit schwarz-weißer baumwollener Litze, gefüttert mit grauem Parchent“ und endend mit einem „sehr alte[n] Watteunterrock, oben blau und weißgestreift, unten rot und schwarz, eingefaßt mit blauem Leinen“.

Allein die Nennung der halbwollenen Mischgewebe Orleans und Parchent oder Barchend verrät die textile Kennerschaft des Verfassers. Arno Schmidts Eltern stammten aus dem niederschlesischen Lauban bei Görlitz. Nach dem frühen Herztod des Vaters, eines Polizeibeamten, im Jahr 1928 zog die Mutter mit den Kindern Lucie und Arno (geboren 1912 und 1914) aus Hamburg in ihr Elternhaus zurück. Nach dem Abitur und einigen Monaten auf der Handelsschule begann Arno Schmidt 1934 eine kaufmännische Lehre bei den Greiff-Werken in Greiffenberg, heute Gryfów Şląski. Anschließend wurde der gebürtige Hamburger mit der ausgeprägten mathematischen Begabung als grafischer Lagerstatistiker übernommen und lernte in der Fabrik die zwei Jahre jüngere Alice Murawski kennen. Bis zur Heirat 1937 arbeitete sie als kaufmännische Angestellte. Auf Wunsch ihres Mannes gab sie ihren Beruf, an dem sie sehr hing, auf. Fortan unterstützte Alice Schmidt mit aller Kraft ihren Mann, der sich nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft zum freien Schriftsteller erklärte. 1950 zum Beispiel unternahm das Paar eine mehr als hundert Kilometer lange Tandemfahrt zu einem Verlagstermin nach Mainz; Zugtickets konnten sie sich nicht leisten. Zahlreiche Umzüge zwischen Rheinland-Pfalz, Darmstadt und Niedersachsen brachten keine Verbesserung der finanziellen Situation. Auch gingen viele Koffer, die sie, den Verlust der Ostgebiete ahnend, während des Zweiten Weltkriegs aus Schlesien in den Westen geschickt hatten, verloren.

Der 1979 verstorbene Romancier Arno Schmidt und seine Frau Alice, deren Tagebuch Susanne Fischer, die Leiterin der Arno Schmidt Stiftung, herausgegeben hat, erfuhren Flucht, Vertreibung und Not. Ob sie das dazu angeregt hat, ihre gesamte Kleidung aufzubewahren? Dieser Frage geht die Ausstellung „Kleider. Geschichten. Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt“ auf höchst originelle Weise nach. Sie wurde von der Arno Schmidt Stiftung konzipiert und ist nach einer ersten Station im Celler Bomann-Museum 2021 nun in erweiterter Form im Textil- und Industriemuseum in Augsburg zu sehen. Rund tausend Stücke aus sechs Jahrzehnten umfasst der textile Nachlass des Autorenehepaares, ein einzigartiger Bestand, wie auch das lesenswerte Begleitheft erläutert.

Gehört es sich, einem Monolithen der deutschen Gegenwartsliteratur in den Schuhschrank zu gucken? Wie hat Arno Schmidt seine legendären Cordhosen gefaltet, wie viele Gürtel und Pelzhüte oder Strumpfhosen der Marke Bellinda in Originalverpackung hat seine Frau Alice besessen? Diese Fragen drängen sich auf, sobald man sich beim Betreten der imposanten ehemaligen Augsburger Kammgarnfabrik an das gedämpfte Licht gewöhnt hat. Es soll die Exponate schonen, die teilweise offen daliegen, Prêt-à-porter sozusagen. Des Autors waldgrüne Lederjacke darf nicht fehlen. Er mochte sie so sehr, dass er sie auch zwei Figuren seines Monumentalromans Zettel‘s Traum anzog. Oder eine zarte Bluse aus einem durchsichtigen Material, das wie Organza wirkt. Der Nachkriegsnot gehorchend nähte sie Alice Schmidt aus einem Zuckersack, während ihr Mann Holzpantinen und Gürtelschnallen schnitzte.

Foto: Ulrich Loeper

„Die meisten Ausstellungen zu Mode oder Kleidung zeigen die Stücke auf Figurinen, auf Schaufensterpuppen oder handgemachten Sonderanfertigungen“, erläutert die stellvertretende Museumsdirektorin Michaela Breil das besondere „horizontale“ Konzept: „Hier sind die Stücke alle flach präsentiert: Man wollte vermeiden, dass Arno und Alice Schmidt als Wiedergänger immer wieder in der Ausstellung vorkommen. Und um den Menschen gerecht zu werden und sie nicht bloßzustellen, ist diese Art von Präsentation entwickelt worden. Und zu diesem Konvolut an Alltagskleidung kommt die Einbindung in die Fotografie, in die Literatur, in Tagebücher, in Briefe, sodass wir ein wundervolles Zeugnis der Konsumgeschichte von Kleidung haben.“

Wie ein ruhiges Meer bedeckt ein blauer Teppich mit einem Stich Petrol die rund tausend Quadratmeter Ausstellungsfläche. Ebenfalls mehr als tausend Objekte aus sechs Jahrzehnten, Kleider, Schuhe und Accessoires, sind zu erleben, etwa ein stilisiertes Dirndl aus der NS-Zeit. Dabei handle es sich um die Umdeutung der Trachtenmode, wie sie durch den Film Im weißen Rössl von 1930 bis in die USA populär wurde, zum „Nationalkleid“, führt Michaela Breil aus: „Die Kleidungsstücke sind nicht restauriert, bis auf eins, und sind so zu sehen, wie sie verpackt waren, in ihrem Zustand. Und ganz besonders schön ist es bei dem ältesten Stück der Ausstellung zu sehen, einem Kleid mit Samtrock: Der Samt ist weder verdrückt noch beschädigt, und das zeigt, wie sorgfältig Alice Schmidt mit ihren Kleidungsstücken umgegangen ist.“

Rund siebzig Paar Schuhe des Ehepaares bilden an der Längsseite eine zwanzig Meter lange Phalanx. Damenmodelle sind in der Überzahl, von kakaobraunen Pumps der Marke „Ago Fußglück“ über blaue Turnschuhe mit weißen Schnürsenkeln bis zu nagelneu wirkenden Wildlederstiefeln. Die Schuhe des Hausherrn dagegen sind durchweg ausgebeult. Michaela Breil erklärt: „Der lange Kleiderschrank zeigt den kompletten Bestand aus den späten dreißiger Jahren bis 1983. Man meint erstmal, das ist sehr viel, aber wenn man sich vorstellt, dass das der Kleidungsbestand mehrerer Jahrzehnte ist, dann sieht man, dass sehr sorgfältig gewirtschaftet wurde.“

Die stummen und doch beredten Textilien wirken wie ein chorischer Hintergrund zum Leben Arno und Alice Schmidts zwischen dem Ersten Weltkrieg und ihren letzten Jahren in Bargfeld in der Lüneburger Heide. Dort fand er endlich Ruhe zum Schreiben, am liebsten in einer Art schwarzblauem Dienstpullover mit weißen Paspeln, den ihm ein Verleger geschenkt hatte. Die literaturgeschichtlich höchst bedeutsame Schmidt’sche Verbindung von Text und Textil aber hat in Greiffenberg ihren Anfang genommen, das zeigt sich in Augsburg ebenso sinnlich wie eindrucksvoll. Nach Art von Weberschiffchen huschen entsprechende Zitate des Schriftstellers über eine schwarze Wand, etwa „graugeflickter Himmel“ oder „Zellulosegewölk“. In einem überaus kenntnisreichen Aufsatz für das Begleitheft erläutert der Museumsdirektor Karl Borromäus Murr die faktischen Grundlagen für Schmidts Poetologie des Textilen.

„Und ich ging im schweren Grauwerk der Luft, wie durch große Wintermäntel“: Solche metaphorisch bestrickenden Sätze laden zur Lektüre des Eigenbrötlers aus Bargfeld ein, der Modegeschäfte mied und stattdessen lieber im Versandhandel orderte. Ein Kapitel aus Arno Schmidts Materialmappe zu Zettel‘s Traum heißt „Meine Franziska“. Es zeigt unter anderem den Katalogausschnitt einer jugendlichen Schönheit im knallroten Badeanzug. Sie wurde zum Vorbild für die gleichnamige Halbwüchsige im Roman, für die sich der Ich-Erzähler Daniel Pagenstecher im nicht immer jugendfreien, an Sigmund Freud geschulten Schmidt-Duktus entflammt.

Die Rekonstruktion der Bestellungen bei Quelle, Neckermann oder Peter Hahn, die Alice Schmidt mit Vergnügen vom Liegestuhl im Garten aus vornahm, enthüllt spannende Details über die Modeindustrie der jungen Bundesrepublik. Ihr selbstgeschneidertes schlesisches „Hösel“ aus Zeltstoff in militärischen Tarnfarben behielt die sparsame Alice zum Glück wie alles andere – es sieht noch makellos aus.

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„Kleider. Geschichten. Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt“: Bis 13. Oktober 2024 im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim), Provinostraße 46. Die von der Arno Schmidt Stiftung (Bargfeld) und dem tim herausgegebene Begleitbroschüre kostet 12,90 Euro.

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